Leseprobe: Grenzerrolle


Für den ehemaligen Grenzsoldaten Joachim Wengel ist das Kapitel Militär in der DDR längst abgeschlossen. Doch als er während der ersten Montagsdemonstration in Leipzig zwischen die Fronten gerät, zwingt ihn die Stasi wieder in die alte Abhängigkeit von Befehl und Gehorsam. Aber die Stasi fordert nicht nur, sie befriedigt auch seine finstersten Bedürfnisse. Ein Zustand, an dem er schier zerbricht. Bis das ganze System außer Kontrolle gerät.

Verlag: Nur über den Autor erhältlich

ISBN-Nummer: 978-3-937446-92-9

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„Darin werden sie aber schmuck aussehen“, sagte die Verkäuferin, während sie den von Wengel ausgesuchten Anzug raschelnd in eine Papiertüte mit dem Aufdruck CENTRUM-Warenhaus packte. Wengel lächelte und sie erkundigte sich nach der glücklichen Braut. Wengel lächelte immer noch, schwieg. Er hatte entschieden, die Verkäuferin nicht darüber aufzuklären, daß dieser Anzug für die Verteidigung seiner Doktorarbeit gedacht war. Er zahlte, verabschiedete sich. Die Verkäuferin verfolgte ihn mit dem Blick einer zufriedenen Schwiegermutter, in dem unterschwellig etwas Neid über die gute Wahl ihrer Tochter mitschwingt, denn die eigene Errungenschaft ist mit den Jahren nicht mehr so galant, so dynamisch, so potent.

„Sie sind Abiturient?“ vergewisserte sich Sachs.
„Jawohl“, bestätige Wengel nicht ohne Stolz, obwohl ihn störte, daß Sachs den letzten Hocker im Zimmer besetzte und Wengel neben dem Tisch in einer mehr oder weniger bequemen Habachtstellung verharren mußte. Der Tag steckte tief in seinen Knochen und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich auf seinen Hocker zu setzen und den Rücken gegen seinen Spind zu lehnen.
„Was haben sie außer ihrem Abitur?“ bohrte Sachs weiter.
„Ich habe die Hochschulreife erworben, eine Studienzulassung für das Herbstsemester nach meinem Militärdienst. Aber was haben sie?“ stänkerte Wengel zurück.
Sachs reagierte gekränkt. „Ich habe einen Beruf. Ich bin Soldat.“
„Ich glaube, daß das Militär etwas prinzipiell destruktives ist. Es ist notwendig, aber ein Übel“, setzte Wengel nach.
„Auch Destruktives, wie sie es ausdrücken hat in dieser Welt ihren Platz. Schon Goethe wußte das, Genosse Wengel. Sie haben den Faust doch gelesen?“
„Jawohl“, bestätigte Wengel. „Ich habe ihn leider nicht verstanden.“
Sachs lehnte sich zurück gegen Wengels Spind. Ein überlegenes Lächeln ergriff von seinem Gesicht Besitz. Er kostete dieses Lächeln einige Sekunden aus, bevor er Wengel niederschmettern wollte.
„Was gibt es an Goethes Faust nicht zu verstehen? Vor allem für einen Abiturienten?“
„Ich spreche von Faust Teil 2, Genosse Unteroffizier.“

„Du bist ein Dachs, Musch“, erklärte Schütz, eine abgesägte Haselnußrute haltend, die er mit seinem Seitengewehr grob bearbeitete. „Alle, die hierher kommen, sind Dachse und deshalb ist es ihnen verboten Heimgang, Reserve, Zivil zu sagen. Kontrolle ist verboten. Das heißt nämlich Überprüfung, Dächslein. Sage niemals: Ich haue ab! So was nimmt dir ,Horch und Guck’ übel.“
Amen, setzte Wengel gedanklich hinzu.

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